Doris Knecht

Kommentar

Doris Knecht

Die Kinder können nichts dafür

Vorarlberg / 16.10.2023 • 15:45 Uhr

Ich wollte eigentlich eine launige Geschichte darüber erzählen, wie ich in München um Mitternacht ohne Schlüssel vor einem schlafenden Hotel strandete und dann einen Herrn wecken musste, der zufällig meinen Namen, also eigentlich exakt den Namen meines Bruders trug, aber mir ist gerade nicht danach. Ich kann mich auch zehn Tage nach dem mörderischen Angriff der Hamas auf Israel nur schwer länger auf etwas Fröhliches konzentrieren, wenn gleichzeitig die Live-Ticker österreichischer Tageszeitungen und der New York Times auf meinem Bildschirm geöffnet sind, mit den neuesten Meldungen zum Israel-Hamas-Krieg. Noch immer gelingt es mir nicht, die Geschichten über die grauenhaften, kaltblütigen Massaker aus meinem Kopf zu bekommen.

„Meine Gedanken sind bei allen diesen verzweifelten Müttern und Vätern, die ihre Kinder verloren haben oder nicht wissen, was mit ihnen geschehen ist und wo sie jetzt sind.“

Als gestern eines der Kinder vorübergehend überzeugt war, durch ein dummes Missgeschick viel Geld verloren zu haben, waren Frust und Ärger kurz sehr groß, dann sagten wir: Ja, Mist, aber es ist nur Geld. (Es ist dann zum Glück eh nichts passiert.)

Trotzdem. Es ist nur Geld: Es so zu sehen, habe ich von Leuten gelernt, die Geld nicht im Übermaß besitzen. Aber es heißt, dass alles andere wichtiger ist: Dass es den Menschen, die man liebt, einigermaßen gut geht, dass man sie beschützt weiß, sicher und gesund.
In den Medien lese ich die Geschichten von Müttern und Vätern, deren Kinder als Geiseln genommen wurden. In der New York Times berichtet eine Mutter von ihrem Sohn Hersh, der beim Überfall auf das Festival an der Grenze zu Gaza einen Arm verlor und dann gekidnappt wurde. Sie weiß nicht, was mit ihm ist, ob er noch lebt, wie es ihm geht, ob sich jemand um ihn kümmert. Ob sie ihn je wiedersehen wird.
Meine Gedanken sind bei allen diesen verzweifelten Müttern und Vätern, die ihre Kinder verloren haben oder nicht wissen, was mit ihnen geschehen ist und wo sie jetzt sind. Meine Gedanken sind auch bei jenen Müttern und Vätern, die mit ihren Kindern im Gazastreifen auf der Flucht sind, die ihre Wohnungen verlassen mussten, die eingekesselt sind in einem Kriegsgebiet und die nun nicht wissen, wie es für sie und ihre Kinder weitergeht. Wo sie hinsollen und ob sie irgendwo Sicherheit finden können, ob es für sie und ihre Kinder eine Zukunft gibt und ein Leben und wo. Wo sie Hilfe finden können, wenn sie verletzt sind, krank, hungrig, durstig, ohne Obdach.
Diese Kinder, alle diese Kinder, auf beiden Seiten: Sie können nichts dafür. Sie sind in einen Konflikt hineingeboren worden, der nun durch den Hamas-Terror zu einem Krieg wurde, der ihre Existenz bedroht und ihre Leben kostet. Der sie zu Opfern macht, da wie dort.

Doris Knecht ist Kolumnistin und Schriftstellerin. Sie lebt mit ihrer Familie in Wien und im Waldviertel.