Monika Helfer

Kommentar

Monika Helfer

Mann mit Zunge

Vorarlberg / 25.10.2023 • 08:59 Uhr

Nach einer Lesung sprach mich ein Mann an, er müsse mir unbedingt seine Geschichte erzählen, die gebe es nur einmal. Ich sagte, leider hätte ich keine Zeit, müsse gleich auf den Zug. Er hielt mich am Ärmel fest.
„Nur fünf Minuten“, sagte er, „oder wollen Sie, dass ich mich von einer Brücke stürze.“
Er fixierte mich mit seinen stechenden Augen, seine Zunge bewegte sich blitzschnell. Ich schaute mich um, in der Hoffnung, ich würde erlöst, aber keiner sah uns zu.
Dieser Mann begann mit rasender Geschwindigkeit seine Erzählung, noch vor dem Mauerfall geboren, seine Mutter eine Prostituierte, die, wenn sie zur Arbeit musste, ihn, den Dreijährigen, am Heizkörper mit einem Gürtel festband. Sie kam oft Tage nicht zurück, und der Bub war hungrig und durstig und musste sein Wasser lassen, kacken. Er schrie, ohne gehört zu werden.
„Hören Sie auf!“, rief ich. „Bitte, hören Sie auf, ich kann mir denken, wie es weitergeht.“

„Der Mann fiel um, er wollte umfallen, wollte einen Aufruhr veranstalten, tat so, als wäre er verletzt, könne nie mehr aufstehen.“

Er hörte nicht auf, sprudelte weiter, wie hätte es anders sein können, er kam in schlechte Kreise, wurde kriminell, drogenabhängig …
„Bitte hören Sie auf! Ich kann Ihnen nicht helfen, ich kann Ihre Geschichte nicht schreiben, die müssen Sie selbst schreiben!“
Er hörte nicht auf – Gefängnis, Verrat, schlechte Frauen – er stülpte seine Hose über die Knie und zeigte mir seine Narben.
„Bitte!“, jammerte ich ein drittes Mal, „verschonen Sie mich, ich muss auf den Zug! Wenn ich ihn versäume, muss ich hier übernachten, das geht nicht.“
„Ich habe gelitten, und Sie lamentieren über einen Zug?“, sagte er. „Wollen Sie ein schlechter Mensch sein?“
„Ja“, sagte ich verzweifelt, „ich will ein schlechter Mensch sein. Wenn Sie jetzt bitte meinen Arm loslassen und mich gehen lassen!“
„Sie werden es noch bereuen“, sagte er. „Einmal im Unglück und niemand hört Ihnen zu. Das kann furchtbar enden.“
Ein Fremder kam mir zu Hilfe. Er zog den Arm des Mannes weg und gab ihm einen Stoß. Der Mann fiel um, er wollte umfallen, wollte einen Aufruhr veranstalten, tat so, als wäre er verletzt, könne nie mehr aufstehen.
„Einer soll die Rettung holen, einer die Polizei!“, schrie er.
Der Fremde zog mich weg, zog mich auf die Straße, bestellte mir ein Taxi zum Bahnhof. Ich hatte meinen Samtmantel vergessen, aber das war mir jetzt gerade egal.
Noch im Zug war ich aufgeregt. Ich rief meinen Mann an, erreichte ihn nicht, rief meinen Sohn an, erreichte ihn nicht. Ich drückte die Augen zu und versuchte zu schlafen. Niemals würde ich jetzt einschlafen können. Ich starrte vor mich hin und musste mich disziplinieren, um nicht zu weinen. Also bin ich zu allem hinzu auch hysterisch, dachte ich. Das darf nicht sein!

Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.