Gerold Riedmann

Kommentar

Gerold Riedmann

Gefährliche ­Europa-Müdigkeit

Vorarlberg / 08.12.2023 • 21:49 Uhr

Die Österreicherinnen und Österreicher lieben die EU so wenig wie die Bürger keines anderen Mitgliedslandes. Richtig gelesen: Aktuell liegen wir bei der EU-Skepsis sieben Plätze hinter Orbán-Ungarn auf dem allerletzten Rang. Hat ihr Land von der EU profitiert? In keinem Land der EU beantworten mehr Menschen die Frage mit Nein als in Österreich.

Ist das ein Ergebnis der populistischen Politik der vergangenen Jahre, der ständigen Zuspitzung? Nun, das Niveau der EU-Wertschätzung war in Österreich in den vergangenen 15 Jahren stets ähnlich mies. Das mag sich in der vom Export lebenden, bislang prosperierenden Bodensee-Region anders anfühlen, doch glühende Europäer sind die Österreicher keine.

Das ist das Ergebnis jahrelanger Wurschtigkeit der Politik, was europäische Zusammenhänge betrifft. Alles, was nach Erfolg riecht, wird öffentlich von den Ministerien, vom Bundeskanzleramt, von den Landesregierungen verkauft. Auch wenn ganz viel Europa in den Entscheidungen steckt. Niederlagen, Sekkierereien? Die darf gern Brüssel haben.

Im Vorfeld der EU-Wahl brennt keine der großen Parteien für Europa. Wer denkt europäisch? Wer trägt die europäische Idee im Herzen?

Der heutigen ÖVP-Führung ist Europa weitestgehend egal. So egal, dass sich bis heute kein Spitzenkandidat für die EU-Wahl in sechs Monaten gefunden hat. Alle haben abgewunken.

Von SPÖ-Chef Andreas Babler ist kein Liebesbekenntnis zu Europa überliefert, aber ein Haufen Kritik. Andreas Schieder wurde zwar als Europa-Spitzenkandidat bestätigt, sein nicht hervorragendes internes Wahlergebnis von 89,8 Prozent zeigt, dass längst nicht alle in der Partei hinter ihm stehen.

Die FPÖ führt heute einer, der sich selbst den historisch problematischen Begriff „Volkskanzler“ umhängen möchte – und für den ein EU-Austritt Österreichs denkbar ist, wie Herbert Kickl kürzlich der „Tiroler Tageszeitung“ erklärte.

Die Europa-Müdigkeit ist brandgefährlich. Zukunftsaussichten für Generationen, Wohlstand und Frieden hängen davon ab.

Es ist im Alltag zu unsichtbar, wie sehr Vorarlberg und Österreich von der europäischen Einbettung in der Wissenschaft, der Bildung, der Sicherheitspolitik und vor allem der Wirtschaft profitieren.

Es wächst die Sehnsucht nach einem klaren Bekenntnis zu Europa und seinen Werten. Nach Politikerinnen und Politikern, die den EU-skeptischen Menschen in Österreich erklären können, dass Europa uns braucht. Und wir Europa brauchen.

Gerold Riedmann

gerold.riedmann@vn.at

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Twitter: @gerold_rie

Gerold Riedmann ist Chefredakteur der Vorarlberger Nachrichten.