Monika Helfer

Kommentar

Monika Helfer

Schnarchender Mann

Vorarlberg / 30.01.2024 • 14:00 Uhr

Ein dicker Mann setzte sich auf seinen Platz im Zugabteil, und bald war er eingeschlafen. In Abständen schreckte er auf und schnarchte, dann ließ er sich wieder zurücksinken und blieb für einige Minuten still, bis er wieder zu schnarchen anfing. Wie Unwetter. Ich muss es wiederholen: Unwetter, weil ein Unwetter ja auch nicht aufhört.

„Der Schnarcher war aufgewacht. Er kannte sich nicht aus.“

Der Zug war voll bis auf den letzten Platz. Unser Abteil war eiskalt, konnte wegen eines unauffindbaren Defekts nicht geheizt werden. Die Leute zogen ihre Mützen und Schals an, legten die Mäntel über sich. Eine Familie aus der Ukraine war mit ihren zwei Buben im Zug, die Mutter, eine duftige Frau, sehr blass, saß mit dem Kleinen auf dem Schoß, der Mann mit dem größeren Kind hinter ihr. Auch sie hatten ihre warmen Sachen übergezogen.

Die Leute verhielten sich diszipliniert. Nur wenn der dicke Mann schnarchte, lachten die beiden Buben lauthals, das erheiterte uns, und wir vergaßen zu frieren. Die Frau redete leise auf das kleine Kind ein, das hörte nicht zu und fiel bei jedem Schnarcher wieder in lautes Gelächter. Sein Lachen klang glockenhell, und es gefiel den Leuten. Immer wieder zog die Frau ihr Handy aus dem Ärmel, so als erwarte sie eine Nachricht. Ihr Mann saß stoisch in seiner Winterjacke.

Kurz vor Salzburg stand die Frau auf, packte ihren Kleinen und zog ihn fort. Sie deutete ihrem Mann, der Kleine müsse dringend. Der Zug hielt. Fuhr wieder ab. Die Frau mit dem Kind kam nicht zurück. Ihr Mann rüttelte an der Toilettentür. Als sie geöffnet wurde, war da ein anderer Fahrgast. Der größere Bub war aufgesprungen, gemeinsam mit dem Vater suchte er nach der Mutter und seinem Bruder. Wir wurden unruhig, der Schaffner kam. Die Waggons wurden durchsucht. Die Frau war nicht da. Das Kind war nicht da. Ihr Mann fing an herumzuschreien, riss sich die Kappe vom Kopf, der Bub machte Fäuste und weinte. Der Mann verlangte, dass die Notbremse gezogen würde. Der Schnarcher war aufgewacht. Er kannte sich nicht aus.

Alles wurde versucht. Die Polizei verständigt. Es musste bis zur nächsten Haltestelle gewartet werden. In Linz stiegen Polizisten ein, und es wurde verhandelt, ob es klug wäre, dass der Mann mit seinem Kind aussteige. Er entschied sich dagegen. Er war außer sich, der weinende Bub war außer sich, uns allen taten die beiden leid. Es war ganz still im Waggon, und es wurde wieder gefroren.

Meine Fantasie galoppierte, und ich stellte mir vor, dass sich die Frau in Salzburg mit ihrem Liebhaber verabredet hatte, deshalb war sie mit dem Kind verschwunden. Sie wollte weg von ihrem Mann. Aber hatte sie denn keine Sorge um ihr größeres Kind? Das beschäftigt mich bis heute.

Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.