Der Krieg und die Ahnungslosigkeit

Der Krieg als Vater aller Dinge – wenn wieder irgendwer in einem wohltemperierten Land wie Österreich dieses Heraklit von Ephesos zugeschriebene Zitat verwendet, fühlt man sich unangenehm berührt. Denn der Krieg ist den meisten von uns fremd, zu unserem Glück. Auch wenn wir uns jetzt, zwei Jahre nach dem Kriegsbeginn in der Ukraine durch Russland, wieder mehr daran erinnern, wie der Krieg das Land verändert hat: Zehntausende Menschen sind gestorben, fünf Millionen sollen laut ukrainischen Behörden innerhalb des Landes auf der Flucht sein, vier Millionen in EU-Staaten Zuflucht gefunden haben. Die ukrainischen Bürgerinnen und Bürger halten nach wie vor zusammen, doch die Erschöpfung wächst. Selbst ihr Mut ist müde geworden.
Erschöpfungskrieg, auch so ein Wort, das manche gerne verwenden. Obwohl wir keine Ahnung davon haben, was Krieg tatsächlich bedeutet. Das wissen nur noch die alten Menschen, die den 2. Weltkrieg erlebt haben, oder jene, die vor dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien oder in Syrien geflohen sind. Durch den Krieg in unserer Nähe kommen die eigenen Traumata bei manchen wieder hoch und wenn man mit ihnen über ihre Erfahrungen spricht, bekommt man erst einen Eindruck vom Wesen des Kriegs – und weiß, dass man nichts darüber weiß.
Viele in Europa bewundern auch das Durchhalten der Menschen in der umkämpften Ukraine, ohne selbst zu wissen, was es bedeutet, durchzuhalten.
Am Beispiel des Ukrainekriegs offenbart sich auch wieder, wie schwierig es heute ist, die Aufmerksamkeit in einer beschleunigten Welt hochzuhalten.
Wie wir zum Beispiel schon an den Corona-Maßnahmen und Beschränkungen der Freiheiten in der Pandemie gelitten haben, die man bei aller Fantasie nicht mit dem Ausnahmezustand eines Kriegs vergleichen kann, verdeutlicht die Ahnungslosigkeit. In der Ukraine bleibt Wolodymyr Selenskyj nur seine Strategie, Hoffnung zu verbreiten, um die Menschen im Land zum Durchhalten zu bewegen. Gerade auch, weil das Interesse der Welt am Krieg etwas nachgelassen hat – selbst, wenn die westlichen Verbündeten der Ukraine zum zweiten Jahrestag der russischen Invasion anhaltende Unterstützung versichert haben: Waffen, humanitäre und politische Unterstützung.
Am Beispiel des Ukrainekriegs offenbart sich auch wieder, wie schwierig es heute ist, die Aufmerksamkeit in einer beschleunigten Welt hochzuhalten. Sie ist ein so knappes wie begehrtes Gut. Diese Aufmerksamkeit konnte Selenskyj in der ersten Phase des Kriegs für das Anliegen seines Landes gewinnen. Doch auch hier gilt wie immer im Aufmerksamkeitsgeschäft: Die Menschen beschäftigen sich nicht mehr jeden Tag mit der Ukraine, die internationale Politik hat auch andere Probleme zu bewältigen. Und das tägliche Leben und Überleben im Kriegsgebiet bleibt ein ferner Gedanke.
Julia Ortner
julia.ortner@vn.at
Julia Ortner ist Journalistin mit Vorarlberger Wurzeln, lebt in Wien und arbeitet für den ORF-Report.