Inflationäre Demokratie
Sie haben es nicht geschafft, eines der 14 Volksbegehren letzte Woche zu unterschreiben? Macht nichts, denn weitere 71 (!) sind bereits auf der Homepage des Innenministeriums in der Antragsschleife. Dort wird geworben für EU- oder WHO-Austritt, die Einführung des „besten Regierungssystems“, 100 Euro für jeden Bürger, leistbares Autofahren, Anhebung der Mindestpension, für „erlebnisfreudvolle MAMAS daheim“, ein „Leben ohne Klimalügen“ (gemeint ist der menschengemachte Klimawandel) oder gegen gendergerechte Sprache. Viele beschränken sich auf ein, zwei Sätze mit Allerweltsforderungen wie „Der Gesetzgeber wolle bundesverfassungsgesetzliche Maßnahmen treffen, um ein leistbares Leben für alle Menschen in Österreich dauerhaft zu gewährleisten. Das LEBEN soll für alle leistbar SEIN und BLEIBEN.“ Kein Scherz: Das soll ein komplettes Volksbegehren sein.
In den letzten Jahren wurden die Hürden für die Beteiligung des Volkes schrittweise gesenkt. Waren früher noch 30.000 Unterschriften für eine Eintragungswoche bzw. 200.000 für die Behandlung im Nationalrat notwendig, so reichen heute trotz wachsender Bevölkerung knapp 10.000 bzw. 100.000 Unterstützungen. Der Gang aufs Gemeindeamt entfiel durch die elektronische Unterschrift ebenso wie die Einreichung als formaler Gesetzesantrag. Seit 1988 können auch reine „Anregungen“ (siehe oben) formuliert werden. In Kombination mit der steigenden Unzufriedenheit mit den Regierenden führten diese Reformen zu der heute vorhandenen Flut an Volksbegehren bei gleichzeitiger Entwertung jedes einzelnen Anliegens.
„Wir besinnen uns unserer Verantwortung als Staatsbürger und verwenden Instrumente der direkten Demokratie gezielt und sparsam.“
Doch nicht nur einzelne Bürgerinnen und Bürger diskreditieren wertvolle Instrumente der Demokratie durch inflationären Einsatz. Die Zunahme der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse beweist, dass selbst gewählte Politiker nicht gefeit sind. Seit U-Ausschüsse von einer Minderheit im Nationalrat eingesetzt werden können, neigen Parteien zu einer Ausweitung der Wahlkampfzone. Diskutiert wird am Ende aber mehr über die Sinnhaftigkeit von Kontrollinstrumenten des Parlaments gegenüber der Regierung statt über die verantwortungslose Instrumentalisierung dieser Werkzeuge durch politische Vertreter.
Zwei Wege für mehr politische Kultur und Einfluss des Volkes stehen uns offen: Wir besinnen uns unserer Verantwortung als Staatsbürger und verwenden Instrumente der direkten Demokratie gezielt und sparsam. Schließlich reicht heute für öffentliche Aufmerksamkeit ein #Hashtag auf Social Media. Oder die Hürden für die Einreichung von Volksbegehren müssen angehoben werden. Das kann die Erhöhung der Unterschriften umfassen oder der Text muss strengere formale Anforderungen erfüllen.
Obwohl es paradox ist: Je mehr die einzige Möglichkeit des Volkes zur Einbringung eines Gesetzesvorschlages in Anspruch genommen wird, desto größer die Gefahr der Entwertung. Daran ist aber nicht das Instrument selbst schuld, sondern nur wenige Aktivisten, deren Interesse am Kostenersatz größer scheint als an direkter Demokratie.
FH-Prof. Kathrin Stainer-Hämmerle, eine gebürtige Lustenauerin, lehrt Politikwissenschaften an der FH Kärnten.
Kommentar