Wahl-Enttäuschungen

Werden die negativen Wahlmotive oder besser gesagt, die Motive für die Nichtwahl einer Partei, psychologisch analysiert, so steht das eher tabuisierte Gefühl der Enttäuschung weit vorne. Die Niederlagen der Türkisen bei den letzten Wahlen sind wahrscheinlich mehr auf die Enttäuschung über den als Jungstar gefeierten früheren Obmann als auf schlechte Regierungsarbeit zurück zu führen. Und die Abkehr von den Grünen bei der EU-Wahl gründet – zumindest in Österreich – ganz wesentlich in der Desillusionierung ihrer Spitzenkandidatin. Enttäuschung als Nichterfüllung des Wunschdenkens oder einer Hoffnung ist eine psychologische Größe, die nicht nur von Wahlwerbern, sondern von uns allen unterschätzt wird.
Enttäuschung ist eine besondere Form der Kränkung, die aufkommt, wenn Erwartungen nicht befriedigt werden. Wenn eine Diskrepanz entsteht zwischen einer Vorstellung und dem, was dann tatsächlich eintritt. Wenn emotionale Zuwendung nicht erwiderte wird, wenn Vertrauen verloren geht. Je höher die Erwartung und je stärker die Hoffnung, desto größer die Gefahr einer schweren Enttäuschung.
Enttäuschungen sind mit Gefühlen von Ärger, Verunsicherung und Frustration, manchmal sogar mit Hoffnungslosigkeit verbunden. Sie lösen Zorn und Wut, oft auch– wie bei der Wahl – Rachegedanken und Hass aus. Will man aber unter keinen Umständen eine Enttäuschung erleben, darf man keinerlei Erwartungen, Wünsche und Hoffnungen haben. Weil aber niemand ein hoffnungsloses Leben führen will, müssen wir uns mit Enttäuschungen auseinandersetzen und versuchen, sie zu bewältigen. Wenn wir sie akzeptieren und als unvermeidlich betrachten, werden wir unseren Erfahrungsschatz erweitern, hinkünftig realistischere Erwartungen entwickeln, die Resilienz stärken und unsere Menschenkenntnis verbessern. Dann können Enttäuschungen – Trost und Ansporn für die Wahlverlierer – Auslöser und Motor für positive Entwicklungen sein.
Wie der Ausdruck schon sagt, kann es Enttäuschung nur geben, wenn jemand getäuscht worden ist. Enttäuschungen sind ja das Ende von Täuschungen. Wer aber ist getäuscht worden? Die nüchterne Erkenntnis wird zuletzt lauten: Ich selbst! Das Versagensgefühl lässt sich nicht mehr auf andere umleiten, sondern ich muss erkennen, dass meine Einschätzung falsch und meine Erwartungen unrealistisch waren, dass ich mich habe täuschen lassen. Das ist bitter, zeigt aber klar, weshalb Enttäuschungen eine so enorme Wirkung haben: Letztlich ist jede Enttäuschung ein Enttäuschtsein von sich selbst.
Reinhard Haller
reinhard.haller@vn.at
Univ.-Prof. Prim. Dr. Reinhard Haller ist Psychiater, Psychotherapeut und früherer Chefarzt des Krankenhauses Maria Ebene.