Einen guten Draht nach oben

Vorarlberg / 04.08.2024 • 16:55 Uhr
MENSCHEN VON NEBENAN
In ihren eigenen vier Wänden fühlt sich Maria Gunz wohl und sicher. HRJ

Der frühe Tod ihrer Tochter hat die 102 Jahre alte Lustenauerin Maria Gunz zutiefst geprägt.

LUSTENAU Frau Gunz hat schon an der Haustür gewartet. Vorsichtig tastet sie sich den engen Flur entlang, hält sich an der Wand, an Schränken, an Türen fest. In der Küche angelangt, gleitet sie auf einen Stuhl und sagt: „Ich habe Kräutertee gemacht. In der grünen Kanne neben dem Herd. Tassen sind oben im Küchenkasten.“ Maria Gunz sieht fast nichts mehr. Eine Makula-Degeneration hat ihre Sehkraft auf ein Minimum reduziert.

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Auf ihre Trachtenjacke ist Frau Gunz stolz: „Ich habe sie gestrickt, als ich noch genug sehen konnte.“ HRJ

Nicht nur die Augen bereiten der 102-jährigen Lustenauerin Probleme. Ihr allgemeiner Gesundheitszustand hat sich in letzter Zeit verschlechtert. „Bis vor vier Monaten machte ich noch jeden Morgen Kneippgüsse. Ich bin nämlich Kneippianerin“, erzählt sie. „Das war auch am Sonntag, dem 17. März, so.“ Das Datum weiß sie noch genau. Das Gedächtnis der betagten Seniorin ist bemerkenswert. Sie hat die Daten aller für sie wichtigen Ereignisse und 17 Handynummern im Kopf.

„Als ich nach dem Kneippguss aus der Badewanne stieg, wurde mir trümmlig, und ich fiel auf den Wäschekorb“, schildert sie, was an jenem Sonntagmorgen geschah. Das Resultat: Drei gebrochene Rippen und ein Spitalsaufenthalt. Wenige Tage nach der Entlassung wurde Frau Gunz erneut ins Krankenhaus eingeliefert. Diesmal bedrohte ein Darmverschluss ihr Leben: „Ich habe überlebt. Eine Woche später ging ich heim.“

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Im Hochbeet vor ihrer Haustür hat Frau Gunz Kräuter angelegt. Damit werden unter ihrer Anleitung Salben, Essenzen, Tinkturen und Tees gemacht. HRJ

In ihren eigenen vier Wänden in Lustenau fühlt sich Maria Gunz wohl und sicher. In Lustenau hat am 19. Jänner 1922 ihr Leben angefangen. Hier ist sie mit drei Schwestern und zwei Brüdern auf dem aufgewachsen. Die Eltern waren Bauern.
Nach der Volksschule plante Maria, in die Hauptschule zu gehen, um danach eine Lehre zur Hotelköchin oder Damenschneiderin zu absolvieren. Doch die Zehnjährige musste im Haushalt und auf dem Hof mitarbeiten. So war das eben damals.

Als 1939 der Zweite Weltkrieg ausbrach, hatte Maria – sie war 17 – eine Stelle in einer Näherei. Kurze Zeit später wechselte sie in eine Weberei. Dort erlebte sie, wie ein Kollege nach dem anderen eingezogen wurde. Auch ihre Brüder mussten an die Front. „Fast täglich kamen Benachrichtigungen mit Namen von Lustenauern, die für Großdeutschland gefallen sind“, erzählt Frau Gunz. Unter den Toten befanden sich auch Verwandte und Kollegen.

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So oft es ihr möglich ist, macht die 102-Jährige einen Spaziergang um das Haus. HRJ

1945, als der Krieg zu Ende ging, war Maria in einem Konfektionsbetrieb beschäftigt. Wissbegierig wie sie war, belegte sie Abendkurse in Englisch und brachte sich selbst Stenographie und Maschineschreiben mithilfe von Fachbüchern bei.

Im gleichen Jahr trat Eduard „Edi“ Gunz in ihr Leben. Geheiratet wurde 1948. Im Jahr darauf kam Tochter Marianne zur Welt, 1952 ihre zweite Tochter Gertrude. „Marianne wurde nur 36 Jahre alt“, sagt Frau Gunz mit zitternder Stimme. Die Gedanken an den frühen Tod der Tochter, die vier Kinder und ihren Ehemann hinterlassen hatte, wühlt sie auf.

Ihr Mann arbeitete bei Zumtobel. Maria war Hausfrau, Mutter und stand Mariannes Familie zur Seite. „Und wann immer ich Zeit hatte, saß ich an der Nähmaschine und nähte Anzüge, Hemden, Blusen, Ball- und Hochzeitskleider und vieles mehr.“

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Ihr Gesundheitszustand hat sich verschlechtert. Dennoch versucht Maria Gunz in Bewegung zu bleiben. HRJ

Infolge einer Herzerkrankung wurde Edi mit 48 Jahren Frührentner. 61-jährig schied er dahin. Maria Gunz bestreitet seitdem ihr Leben als Mindestrentnerin. „Mit dem Pflegegeld komme ich über die Runden“, meint sie bescheiden.
Gegenwärtig bewältigt sie ihren Alltag mit Unterstützung ihrer Enkelkinder und Nichten, zwei Mohi-Mitarbeiterinnen und einer Reinigungskraft. Ebenso für sie da ist ihre zweite, in Deutschland lebende Tochter Gertrude. „Was ich kann, mache ich noch selbst“, betont Frau Gunz.

Aber jetzt müsse sie unbedingt noch von der Dagmar erzählen: „Ihre Hilfsbereitschaft und liebevolle Betreuung – die Dagmar ist einfach unglaublich!“ Die Pflegeassistentin und Fachsozialbetreuerin Dagmar Wohlgenannt-Peter ermöglicht im Rahmen des Volkshilfe-Projektes „Pflege in den Bergen“ pflegebedürftigen Vereinsmitgliedern, in ihrem Haus in Ebnit Auszeit vom Alltag zu nehmen. Maria Gunz war ihr erster Gast: „Im April habe ich 16 wunderschöne Tage im Ebnit verbracht. Es wäre schön, wenn ich noch einmal Dagmars Gast sein könnte“, wünscht sie sich. Übrigens habe sie noch einen Wunsch: „Dass die Kriege endlich aufhören und es Frieden gibt auf der Welt.“

Dem Zeitpunkt, an dem sie die Bühne des Lebens verlassen wird, sieht Maria Gunz gelassen entgegen: „Ich habe keine Angst. Ich war mein Lebtag fleißig, habe immer anderen Menschen geholfen und bin meinen Prinzipien, aufrichtig zu sein und zu dem zu stehen, was man sagt und tut, treu geblieben. Ich habe einen guten Draht nach Oben.“