Hab ich gefunden – 3
Diese Geschichte erzählte eine Frau und erlaubte mir, sie aufzuschreiben.
Jetzt kenne ich den Namen des Mädchens, den neuen Namen: Walli Auer.
Sie war erst neun, als sie verschwunden ist. Sie ist nie bei ihrem Vater und ihren drei Brüdern angekommen. Es hieß, die Familie sei aus dem Dorf in der Steiermark weggezogen. Irgendwohin in eine Großstadt in Deutschland, wo der Vater angeblich eine bessere Stelle gefunden hatte. Angeblich und anscheinend. Diese Wörter habe ich damals oft gehört. Niemand wusste Genaues. Wohin hat es das Mädchen verschlagen?
„Das Traurige ist, solche Fälle verblassen und werden vergessen.“
Anscheinend, so hieß es, habe eine Nachbarin der Familie das Mädchen gesehen, wie es hilflos vor dem leeren Haus ihres Vaters gestanden sei, einen Tag, noch einen Tag. Ob man sich auf die Aussage der Frau verlassen kann? Angeblich, sei sie ein seriöser Mensch, sie könne sich an die drei hübschen Buben, die Brüder, erinnern. Sie hätten ausgesehen wie Drillinge, müssen knapp hintereinander auf die Welt gekommen sein. Höfliche Kerle. Einer habe die Zeitung ausgetragen.
Das Traurige ist, solche Fälle verblassen und werden vergessen. Der erste Jahrestag lässt erinnern, der zweite nicht mehr. Die Mutter des Mädchens sei gestorben, wurde mir mitgeteilt. Woran? An der kaputten Leber – anscheinend. Niemand habe Kontakt zu ihr gehabt. Sie sei gefährlich gewesen wie ein Messer. Als man sie tot aus ihrer Wohnung getragen habe, sei niemand im Stiegenhaus gewesen, sagte ein Sanitäter, alle Türen zu, nicht einmal ein Spalt für die Neugierde. Es habe aus der Wohnung gestunken. Die Tür wurde versiegelt.
Ich glaube, ich war die einzige, die immer wieder an das Kind gedacht hat. In den kommenden Jahren. Ich habe meinem Sohn, als er mich einmal besuchte, das Zeitungsbild gezeigt. Er hat es in der Hand gehalten und lange nicht weggelegt. Dann hat er leise gesagt, er denke, sie sei tot, schade oder gerade nicht schade. Für dieses kleine Mädchen sei der Tod sicher das Beste.
Ich konnte das Kind nicht vergessen.
Immer wieder versuchte ich zu recherchieren. Nach fünf Jahren – da wäre das Mädchen vierzehn gewesen – bin ich in die Steiermark gefahren und habe mich umgehört. Ich wurde gefragt, ob ich eine Verwandte sei. In der Steiermark blühten die Apfelbäume.
Dann geschah etwas Unglaubliches. Eine Jugendliche, genaues Alter ungewiss, dunkle Haare, schattige Augen, etwas übergewichtig, klingelte an meiner Tür. Sie schlüpfte ins Haus, stand im Dunkeln, weil alle Fenster und Türen zum Hellen geschlossen waren.
„Erinnern Sie sich“, sagte sie und fasste mich am Arm: „Ich bin es.“
Ich zog sie ins Helle. Ich war aufgeregt und auch ängstlich. Was man alles über ihre Mutter gehört hat. Dass der Apfel nicht weit vom Stamm fällt …
„Du bist es“, sagte ich und berührte ihre Hand.
„Ich heiße nicht mehr so, wie ich geheißen habe“, sagte sie. „Ich bin umgetauft. Amtlich. Jetzt heiße ich Walli Auer.“
Wie es weitergeht, erfahren Sie nächsten Mittwoch an derselben Stelle.
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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