Laudatio von Jürgen-Thomas Ernst: Inklusion braucht Mut

Vorarlberg / 02.09.2024 • 20:30 Uhr
Russpreis 2024, Russpreisverleihung, Judith Bechtold und Ingrid Rüscher
Jürgen-Thomas Ernst erinnert in seiner Festrede an die Herausforderungen, die die beiden Mütter und ihr Verein Integration Vorarlberg über die vergangenen Jahrzehnte im Kampf um Inklusion kennenlernten. Fotos: VN/Paulitsch, Rhomberg

55. Dr.-Toni-und-Rosa-Russ-Preis und -Ring an Judith Bechtold und Ingrid Rüscher: Inklusion müsse stets aktiv verteidigt und gefördert werden, betont Festredner und Schriftsteller Jürgen-Thomas Ernst.

Von Mirijam Haller und Matthias Rauch

Bregenz “In der Literatur gibt es viele Beispiele von Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die über Menschen mit Behinderung schreiben”, zeigt Schriftsteller Jürgen-Thomas Ernst zu Beginn seiner Laudatio auf. Und oft ist ihnen etwas gemeinsam: Es sind Geschichten von aufgezwungenem Außenseitertum, vom verstoßen werden aus der Gesellschaft, in der man lebt. “Dabei zu sein in einer Gemeinschaft und ein Teil von ihr zu sein ist ein grundlegendes menschliches Bedürfnis. Das sollte außer Frage stehen”, fasst er das Anliegen der beiden Russpreisträgerinnen Ingrid Rüscher (66) und Judith Bechtold (69) am Montagabend zusammen.

Russpreis 2024 Verleihung Veranstaltung Musik Ansprache Musik Laudator Jürgen Thomas Ernst
Schrifsteller Jürgen-Thomas Ernst hielt die Laudatio.

Man müsse sich nur vorstellen, was es für einen selbst bedeuten würde. An einem Ort zu leben, in dessen Kirche und Gasthaus man nicht willkommen ist. Die Bäckerei und die Schule nur von außen zu kennen, überall scheel angesehen werden. Das Gefühl von Heimat in einem Ort, in dem jeder jeden kennt, verweigert zu bekommen. Situationen, die Ingrid Rüscher und Judith Bechtold mit ihren eigenen Kindern erlebt haben. Situationen, die sie noch heute teilweise erleben. Situationen, die so auch alte, kranke, fremde Menschen wiedererkennen. Situationen, die sie nicht akzeptiert haben. Sie wollten, dass ihre Töchter am Leben im Dorf teilhaben– und auch andere Kinder mit Beeinträchtigung.

Russpreis 2024 Verleihung Veranstaltung Musik Ansprache Musik Laudator Jürgen Thomas Ernst

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Ernst erinnert in seiner Festrede an die Herausforderungen, die die beiden Mütter und ihr Verein Integration Vorarlberg über die vergangenen Jahrzehnte im Kampf um Inklusion kennenlernten. Etwa, ewiger Bittsteller bei Behörden zu sein. Bedenken und Widerstand durch die Eltern der anderen Kinder. “Man muss viel kräftiger rudern als die anderen, um dabei zu sein und um ein Teil der sozialen Gemeinschaft zu werden und zu bleiben”, nimmt er ein Zitat Rüschers auf. Es könne jeden treffen, etwa nach einem Hirnschlag oder Verkehrsunfall. Man wünsche sich beinahe italienische Verhältnisse. Hier wurden bereits vor 50 Jahren Sonderschulen abgeschafft und Inklusion von Anfang an verordnet und daraufhin auch gelebt. “Und es ist nicht selbstverständlich, dass das Erkämpfte und das Erreichte Bestand hat.” Dies gelte bis heute, nichts ist in Stein gemeißelt. “Alles will mit Achtsamkeit beschützt werden. Ganz egal, ob es sich dabei um Inklusion oder um unsere Demokratie handelt”, wünscht er dem Verein und unserer Gesellschaft auch weiterhin viel Tatkraft.

Die wahren “Leistungsträger”

Finanzminister und designierter EU-Kommissionskandidat Magnus Brunner hob in seiner Rede die Bedeutung von Anerkennung und Dankbarkeit gegenüber jenen hervor, die oft im Schatten stehen und deren wertvolle Arbeit selten die Aufmerksamkeit erhält, die sie verdient. Als Politiker sei er es gewohnt, den sogenannten “Leistungsträgern” zu danken.

Russpreis 2024, Russpreisverleihung, Judith Bechtold und Ingrid Rüscher
Magnus Brunner danke allen, die sich im Dienst des Gemeinwohls und der Menschlichkeit engagieren.

An diesem Abend richtete Brunner seinen Dank an diejenigen, die sich im Dienst des Gemeinwohls, der Menschlichkeit und der Solidarität engagieren. Er betonte die Rolle dieser Menschen, die unermüdlich für eine bessere Gesellschaft eintreten: “Das Eine ist zu wissen, was zu tun ist, aber das Andere ist, es auch wirklich zu tun. Die Preisträgerinnen haben sich 1989 dazu entschlossen, aktiv zu werden und etwas zu tun.”

Russpreis 2024, Russpreisverleihung, Judith Bechtold und Ingrid Rüscher
550 Gäste kamen zu dem Festabend im Bregenzer Festspielhaus.

Statements von Wegbegleiterinnen:

Russpreis, gratulantinen
Gerda Obrist, Gründungsmitglied Integration Vorarlberg: “Ich war bei der Gründungssitzung des Vereins dabei. Damals war das eine Revolution. Wir wollten für unsere Kinder etwas anderes, wir wollten den integrativen Weg. Ich war froh, dass noch mehr Leute so dachten wie ich. Was ich den Preisträgerinnen und dem Verein mitgeben möchte: Inklusion soll aktiver gelebt werden. Derzeit läuft so vieles unter dem Begriff Inklusion. Wahre Integration ist, wenn Menschen mit Beeinträchtigung nicht ausgesondert werden, sondern einen Platz in der Gesellschaft haben.”
Russpreis, gratulantinen
Karin Dorner, Schulleiterin Schule am See Hard: “Die Preisträgerinnen sind sehr mutige Frauen, weil sie die Ersten waren, die sich stark dafür gemacht haben, dass die Kinder in den regulären Unterricht gehen, mit ihren Freunden und Nachbarskindern. Es war damals nicht leicht, es gab viele Stolpersteine. Sie mussten sich vieles sagen lassen. Ich bin glücklich, dass man diese Integration damals mit erleben durfte, so hat sich der Unterricht und das System ändern müssen. Ich würde mir wünschen, dass dies so bleibt, denn wir haben einen gewaltigen Stillstand.”
Russpreis, gratulantinen
Claudia Niedermair, Vorstandsmitglied Integration Vorarlberg: “Ich möchte mich bei den Preisträgerinnen ganz herzlich dafür bedanken, dass sie das Thema Integration und Inklusion angestoßen und überhaupt nach Vorarlberg gebracht haben. Das kann man sich heute nicht mehr vorstellen. Vor 35 Jahren war das noch ganz anders. Sie haben mit so großer Ausdauer und Überzeugungskraft dieses wichtige Thema die ganzen Jahre über weitergetragen. Sie sind nicht müde geworden, für dieses Thema an den unterschiedlichsten Stellen zu werben und sich dafür starkzumachen.”

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Musikalisch und kulinarisch durch den Abend

festakt Die musikalische Begleitung durfte bei der Verleihung des 55. Dr.-Toni-und-Rosa-Russ-Preises nicht fehlen. Dafür sorgten Philipp Lingg und Martin Grabner, die das Publikum mit ihren Klängen begeisterten. “Ich kenne Ingrid Rüscher und ihre Tochter Stephanie von zahlreichen Konzerten, etwa im Bahnhof Andelsbuch”, betont Lingg die Verbundenheit mit den Russpreisträgerinnen. So gab es auch gemeinsame Veranstaltungen mit dem Verein Integration Vorarlberg. Für die Bregenzerwälder Musiker daher auch eine schöne Geste, an diesem besonderen Abend für die Inklusion im Land einen Beitrag leisten zu können. Gesungen wurde in diadenglisch, zwischen Dialekt und Englisch. Nach der zauberhaften Darbietung mit Akkordeon und Schlagzeug folgte großer Applaus von den 550 anwesenden Gästen.

Russpreis 2024 Verleihung Veranstaltung Musik Ansprache Eugen Russ
Die Musiker Philipp Lingg und Martin Grabner begeisterten das Publikum mit ihren Klängen.
Russpreis 2024 Verleihung Veranstaltung Musik Ansprache Eugen Russ

Zoltan Toth und sein Team von evenTZ by foodaffairs haben für die kulinarischen Genüsse unter den Gästen gesorgt.

Treffpunkt Russpreis
Bei den spätsommerlichen Temperaturen durfte ein Aperitif zu Beginn des Festabends nicht fehlen.
Russpreis 2024 Verleihung Veranstaltung Treffpunkt
Das Team von Zoltan Toth sorgte für den Gaumenschmaus.
Russpreis 2024 Verleihung Veranstaltung Musik Ansprache Musik Laudator Jürgen Thomas Ernst
Russpreis 2024, Russpreisverleihung, Judith Bechtold und Ingrid Rüscher
Das Team von Zoltan Toth sorgte für den Gaumenschmaus.

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