Monika Helfer

Kommentar

Monika Helfer

Der Diabetiker

Vorarlberg / 14.11.2024 • 07:45 Uhr

Diese Geschichte erzählte mir ein Mann beim Frühstück im Hotel:

Als Kind war seinen Eltern aufgefallen, dass ihr kleiner Sohn so erschöpft wirkte. Er schlief zwischen seinen halb gebauten Burgen ein. Die Eltern sorgten sich. Besonders die Mutter, die ängstlich war, und alles, was das Kind betraf, auf sich bezog.

„Das Kind hatte keinen Appetit. Die Eltern gingen zum Arzt. Der Bub wurde nach seinem Namen gefragt.“

Um zu erklären was er meinte, sagte mein Tischnachbar: „Stellen Sie sich Folgendes vor: Meine Mutter kauft mir zum Geburtstag zwei Krawatten, eine rote, eine blaue, und als ich sie einmal besuche trage ich die rote, da schaut sie mich an und sagt: Also die blaue hat die also nicht gefallen.“ So ist sie. Er lacht.
Ich sagte: „Das ist aber eine alte Geschichte, die wird von der jüdischen Mama erzählt.“
„Ach so?“, sagte er.

Das Kind hatte keinen Appetit. Die Eltern gingen zum Arzt. Der Bub wurde nach seinem Namen gefragt.
„Du bist also der Paul. Hast denselben Vornamen wie ich. Interessierst du dich für Sport?“
Paul interessierte sich nicht für Sport, dafür war er zu erschöpft.
„Mich interessiert der Sport auch nur im Fernsehen“, sagte der Arzt. Er gab sich Mühe. „Mach den Oberkörper frei.“
Sogleich zog die Mutter an Pauls Ärmel.
„Ich kann das allein, lass mich,“ sagte er.

Bei der Untersuchung stellte der Arzt einen Mangel des Hormons Insulin fest, die Zellen versagen in der Bauchspeicheldrüse … oder so …
„Wo hat der Schatz denn seine Bauchspeicheldrüse?“, fragte die Mutter.
Geduldig zeigte der Arzt auf den Oberbauch des Kindes: „Da drinnen solle das Insulin produziert werden, tut es aber nicht, ist aber kein Malheur.“
„Weißt du Paul, was ein Malheur ist?“

Der Bub wusste es nicht. Er fand den Arzt nett, weil er ihn in das Gespräch einband.

„Was haben wir falsch gemacht“, sagte die Mutter zu Hause zu ihrem Mann.
„Es ist eine Krankheit“, sagte der Vater, „beruhige dich.“ Ihm war das Verhalten seiner Frau peinlich. „Diabetes Typ 1 ist nicht heilbar.“ Das hatte auch der Arzt gesagt.

„Paul muss sein Leben lang Insulin spritzen“, sagte der Vater und zu Paul: „So wie ich das einschätze, wird das kein Problem für dich werden. Ich zeige es dir. Deine Mutter kauft dir ein Ledertäschchen, darin befindet sich dein Spritzbesteck. Das Täschchen hängt an deinem Gürtel.“

Paul nahm seine Krankheit ernst. Erst probierte er zaghaft die Spritze, dann gewöhnte er sich daran. Wenn ihm dabei zugeschaut wurde, gefiel er sich.
Mein Tischnachbar zeigte auf das alte Täschchen an seinem Gürtel. Es sei ihm aus dem Auto gestohlen worden, als er einmal auf Urlaub in Sizilien war. Er war zu den Carabinieri gegangen und hatte gesagt, wie dringend er die Spritze brauche. Es gab ein Telefonat. Ein vornehmer Herr erschien, schwarzes Hemd, weiße Krawatte. Alles würde sofort in die Wege geleitet. Nach einer Stunde tauchte das Täschchen auf. Man entschuldigte sich und lud den Mann auf ein Dorffest ein. Ein Spalier von Frauen und Männern standen mit einem Transparent auf der Straße. Darauf stand:
„Diamo il bevenuto ai nostri il diabetico.“

Es gab ein großes Essen mit viel Gesang. Gesponsert von der Mafia. Zwei junge Burschen mit rotgeschlagenen Gesichtern kamen, verbeugten sich und baten um Entschuldigung.

Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.