Doris Knecht

Kommentar

Doris Knecht

Familie für alle

Vorarlberg / 24.12.2024 • 07:22 Uhr

Das Privileg, heuer die Weihnachtskolumne schreiben zu dürfen, zelebriere ich, in dem ich sie feierlich im Zug Richtung Ländle verfasse, wo wir auch diesmal mit der ganzen Familie feiern werden.

Mit der ganzen Familie: Ich betrachte das als Privileg, das mir zufällig und durch reines Glück zufiel. Nicht jeder hat noch eine Familie, nicht alle wurden in so eine liebevolle Gruppe von Menschen hineingeboren wie ich, eine Familie, in der alle sich gern haben, über drei Generationen hinweg. Eine Familie, in der jede und jeder sich bemüht, die Brücken intakt und stabil zu halten auch über räumliche, manchmal weltanschauliche oder inhaltliche Distanzen hinweg. Nicht jeder hat eine Familie, in der es allen ein Anliegen ist, dass aus diesen Distanzen keine Gräben werden, und auch wenn es manchmal anstrengend ist oder bedeutet, darauf zu verzichten, Recht zu haben.

Das passiert nicht immer von selber, das muss man wollen. Das müssen alle wollen, es braucht einen Konsens, einen gemeinsamen Willen, das harmonische Miteinander über die Verschiedenheiten zu stellen. Daran muss man mitunter arbeiten. Manchmal muss in einer Sache nachgeben oder ein Thema unter den Familientisch fallen lassen, das einem im Prinzip wichtig ist. Manchmal muss man bei Familienbesuchen, vor allem als urbane Feministin, ein paar Haltungen in der Garderobe auf den Kleiderbügel hängen, bis man wieder heimfährt, um Konflikte zu vermeiden. Manchmal lohnt es sich auch, mit dem Finger vorsichtig auf Ungerechtigkeiten zu deuten, nicht aggressiv, nicht anklagend, nicht verletzend, und so ein wenig höfliche Bewusstseinsarbeit zu leisten. Es soll nur auf keinen Fall den Frieden gefährden, weil es da draußen wirklich schon genug Konflikte und Krieg gibt, und man in das Glück, eine Familie zu haben, in der man sich gut versteht und in aller Unterschiedlichkeit akzeptiert, keinen Misston bringen möchte.

Wenn einem dieses Glück vom Schicksal verwehrt wurde, wenn man keine Familie mehr hat, oder keine, die einem gut tut, bleibt einem nichts anderes übrig, als sich eine neue Familie zu suchen, selbst auszusuchen. Eine Familie, mit der man nicht zwingend verwandt ist. Der englische Begriff der „chosen Family“ oder „Familiy of Choice“ lässt sich am besten mit „Wahlfamilie“ übersetzen: Eine Gruppe von Menschen, die dich akzeptiert, so wie du bist, Freundinnen und Freunde, die dich mit dem Quantum an Liebe, Wärme, Verständnis und Unterstützung versorgen, dass du dir verdienst, und die da sind, wenn du sie brauchst. (Meine heurige Weihachtsspende ging an eine Organisation, die Wohnungslosen und Nichtversicherten Obdach bietet, auch am heutigen Abend, mit einem gemeinsamen Fest und Geschenken für alle, wie es sein soll.)

Was immer ihr heute feiert oder nicht feiert: Habt einen schönen Abend, hoffentlich im Kreise von Leuten, die euch Familie sind; egal ob angeboren oder selbst ausgesucht. Frohes Fest!

Doris Knecht ist Kolumnistin und Schriftstellerin. Sie lebt mit ihrer Familie in Wien und im Waldviertel.