Reinhard Haller

Kommentar

Reinhard Haller

Miteinander reden lernen

Vorarlberg / 15.01.2025 • 11:11 Uhr

Wenn man nach einer großen Gemeinsamkeit in allen zwischenmenschlichen, gesellschaftlichen und politischen Konflikten sucht, kommt man zu einem überraschend simplen Ergebnis: Die beteiligten Personen können nicht mehr miteinander reden. Sei dies bei den soeben geplatzten Gesprächen zur Bildung einer „Zuckerkoalition“, sei es beim ewig nicht lösbaren Nahostkonflikt oder bei der permanenten Verhandlungsweigerung im russisch-ukrainischen Krieg. Gespräche hätten zum jetzigen Zeitpunkt keinen Sinn, so heißt es. Man knüpft das miteinander Sprechen an alle möglichen Bedingungen oder delegiert es gar an die Waffen. Wortlosigkeit wird zum Blockadeinstrument und Schweigen zum Kriegswerkzeug.

„Wenn die Menschen nicht mehr miteinander reden können, scheitern Partnerschaften und Bündnisse.“

Nicht nur bei großen politischen Streitigkeiten, auch in zwischenmenschlichen Auseinandersetzungen ist die verbale Verweigerung das größte Problem. Wenn die Menschen nicht mehr miteinander reden können, scheitern Partnerschaften und Bündnisse, kommt es zu Konflikten zwischen den Generationen, zu familiären Zerwürfnissen und Trennungen. Nach mehreren wissenschaftlichen Untersuchungen zur Ursache von Scheidungen wurde als Hauptgrund genannt: „Weil wir nicht mehr miteinander reden können“.
Miteinander zu reden ist viel mehr als Informationsaustausch. Als wichtigste menschliche Kommunikationsform geht das Reden weit über kurze Internetnachrichten oder ein paar Emojis hinaus. Echte Gespräche, die mit Emotionalität und psychologischem Tiefgang verbunden sein müssen, stellen den Grundpfeiler menschlicher Beziehungen dar. Sie schaffen Verbindung, Verstehen und Vertrauen.
Allerdings können sie nur gelingen, wenn wir uns Zeit füreinander nehmen, wenn wir zuhören können, wenn wir offen, authentisch und emotional intelligent, also empathisch sind. Miteinander reden zu können, ist eine reife menschliche Leistung, die weit über die primitiven Formen der Problembewältigung hinausgeht. All jene, die sich durch Redeverweigerung mächtig fühlen, sollten dies nicht als Ausdruck von Überlegenheit, sondern von Schwäche und mangelnder Souveränität betrachten.

In der verfahrenen politischen Situation, in der wir heute national und international stehen, ist den Beteiligten die Erkenntnis zu wünschen, dass ohne Reden nichts geht, keine Entwicklung, keine Lösung, kein Menschsein. Besser als Taktieren und Daueranalysieren wäre es vielleicht, über eine uralte Weisheit nachzudenken, die besonders eindrucksvoll im ersten Satz des Johannesevangeliums zum Ausdruck kommt: „Am Anfang war das Wort“.

Univ.-Prof. Prim. Dr. Reinhard Haller ist Psychiater, Psychotherapeut und früherer Chefarzt des Krankenhauses Maria Ebene.