Kein Handy und ein Nagel im Ohr: „Es ist eine andere Welt“

Hannah Riederer folgt einer uralten Tradition. Derzeit packt sie in Hittisau mit an.
Hittisau Alles, was sie dabei hat, passt in ein kleines Bündel. Sie hat kein Handy und keinen Computer und darf sich für drei Jahre und einen Tag ihrem Heimatort nicht mehr als 50 Kilometer nähern. Hannah Riederer (24) folgt einer jahrhundertealten Tradition. Die 24-Jährige ist Wandergesellin. Vor Kurzem hat sie an die Tür der Holzwerkstatt von Markus Faißt (62) in Hittisau geklopft. „Wir hatten über die Jahrzehnte schon oft Walzwanderer hier. Aber es gibt ein paar Sachen, die sind einfach immer wieder beeindruckend, so aus der Zeit gefallen und so besonders“, sagt der Holzwerkstatt-Chef. Hannah sei zudem ein wahrer Glücksfalls für die 1000-jährige Tradition. „So wie sie das macht, das gibt es selten. Wie sie auf die Welt blickt und wie selbstbewusst sie als Handwerkerin in die Welt schreitet, das ist eine starke Nummer“, merkt Markus Faißt bewundernd an.

Die Reise von Hannah Riederer hat im Sommer in ihrem Heimatort im Bergischen Land (Nordrhein-Westfalen) begonnen. Davor musste sie vor ihrem Ortsschild ein Loch buddeln und eine Schnapsflasche und eine Flasche mit Wünschen darin vergraben. „Dann kletterst du über das Ortsschild, gehst weg und darfst dich nicht mehr umdrehen. Wenn du wieder zurückkommst, buddelst du die Flaschen wieder aus“, schildert die Westfälin, die wie alle Wandergesellen mit fünf Euro in der Tasche losgezogen ist und mit fünf Euro auch wieder heimkommen muss.

In ihrem Gepäck findet sich nicht viel mehr als eine Arbeitskluft, eine Reisekluft, Werkzeug, Unterwäsche, eine kleine Digitalkamera und ein Wanderstock. Smartwatches sind nicht erlaubt. Stattdessen hat Hannah Riederer einen winzigen Wecker dabei. „Damit man immer pünktlich ist. Es gibt ein sehr hohes Ethos. Das, was man gelobt, wird eingehalten“, berichtet Markus Faißt. „Der Wecker ist sehr gehütet, weil es ganz schwer ist, noch einen zu bekommen. Wenn ich nach Hause gehe, werde ich ihn jemandem anderen überlassen“, unterstreicht die junge Frau, während sie ihr kleines, weißes Zeitmessgerät aus der Jacketttasche zieht und es stolz den Besuchern demonstriert.

Im ersten Jahr sind die Wandergesellen im deutschsprachigen Raum unterwegs, das zweite Jahr in Europa und das dritte Jahr weltweit, wobei für das Reisen kein Geld ausgegeben werden darf. Entweder man geht zu Fuß und fährt per Anhalter mit. An einem Ort bleiben sie höchstens drei Monate, dann ziehen sie weiter. Ein großes Ziel von Hannah Riederer ist Japan. „Wir sagen immer, es ist eine große Bildungsreise. Man hat drei Jahre, in denen man lernen kann, was man möchte“, erzählt die hochgewachsene Tischlerin. Nach einer Art Probezeit von rund drei Monaten bekommt man ein Ohrloch genagelt. „Es ist eine ganz eigene Welt“, rekapituliert die Wandersfrau. „Jeder wird eine gewisse Zeit auf dem Tisch festgenagelt. Danach gibt man ein Versprechen ab, mindestens drei Jahre und einen Tag zünftig und ehrbar in Kluft zu reisen.“

In die Holzwerkstatt ist Hannah Riederer auf Empfehlung gekommen. Als sie nach einer Nacht in der Stube im Gasthaus Adler bei der Holzwerkstatt vorstellig wurde, war sie bereits angekündigt worden. „Wir waren eigentlich voll. Ich bin dann ein wenig ratlos durch die Werkstatt gegangen, ob ich sie nehmen soll. Nachdem Peter, der seit 33 Jahren bei uns ist, gesagt hat: ,Ich glaube so etwas sollte man unterstützen‘, war es klar“, blickt der Chef zurück. Jetzt wohnt die 24-Jährige in der Gästewohnung der Faißts. Für ihre Arbeit bekommt sie ein Gesellengehalt. „Wir wollen die Handwerker vor Ort nicht unterbieten“, begründet sie. Für Kost und Logis arbeiten die wandernden Handwerker dann, wenn sie sich für soziale Projekte engagieren, wie heuer in Chemnitz oder auf der Baustelle an der bayerischen-tschechischen Grenze, wo Wandergesellen drei Fachwerkhäuser in ökologischer Bauweise errichten. Zwischendurch geht Hannah Riederer an Schulen, um den Schülern von der Tradition der Wanderschaft zu berichten.

Der Dresscode ist dabei immer derselbe: Hut, weißes Hemd, schwarze Hose, schwarze Weste und schwarzes Jackett. “Wichtig für uns ist, dass man sich in der Kluft gut verhält, weil es sonst auf andere zurückfällt. Wir sagen immer: Wir sollten den Ort, an dem wir waren, so hinterlassen, dass die Person, die nach uns dort hinkommt, genauso wie wir behandelt wird – oder im Idealfall besser“, erläutert Hannah Riederer.

Die Wandergesellin ist seit einem knappen halben Jahr auf Wanderschaft. Seither denke sie besser über die Leute, sagt sie. „Wenn man zu Hause ist und hört, was auf der Welt alles Schlechtes passiert, dann denkt man nur: ,Was ist nur los mit den Leuten?’ Wenn man unterwegs ist, hat man auf einmal ein ganz anderes Bild. Meistens denkt man: ,Krass, ich habe die Person noch nie gesehen und sie hilft mir jetzt einfach so.‘“