Monika Helfer

Kommentar

Monika Helfer

Kolumne: Der Schutzumschlag

Vorarlberg / 04.06.2025 • 08:05 Uhr

Wie wichtig ein Schutzumschlag sei, erklärte mir mein Vater, als ich noch ein Schulkind war. Das schöne Buch muss geschützt werden. Das gute Buch muss geschützt werden.
„Vor was geschützt?“, fragte ich.
„Von jeglicher Art von Flecken, sieh dir deine fettigen Finger an, hast gerade ein Butterbrot gegessen, da sag ich dir, ist es beinahe auch schade um den Schutzumschlag.“
Also setzte er sich mit mir an den Küchentisch, suchte eine gute Zeitung mit einem schönen Bild, am liebsten ein Bild von einem Künstler, die faltete er so geschickt, dass das Bild an der Vorderseite prangte. Die Zeitung muss groß genug sein, so dass sie oben und unten tief eingeschlagen werden kann. Das gibt dann zwei Öffnungen, in der das Buch oder Heft hineingesteckt wird. „Wie in einen Ärmel.“
„Aber das sind doch nur Hefte, Mathe und Englisch“, sagte ich.
„Alles verdient einen Schutz, Monika“ sagte er. „Wie auch die Menschen einen Schutz brauchen. Einen Schirm, wenn es regnet, ein Feuer, wo man sich wärmen kann, für Kinder sind es deine Eltern, die dich beschützen.“
„Und wie weiß ich, welches Heft es ist, welches Buch? Muss ich meinen Namen und den Titel draufschreiben? Damit es nicht verwechselt wird mit einem anderen.“
Das sei nicht nötig, sagte mein Vater, weil niemand so schöne eingebundene Hefte haben würde wie ich.
„Und überhaupt“, fragte ich, „wovor sollen mich meine Eltern beschützen?“
„Vor dem bösen Wolf, das kann ein verkleideter Mann sein, der dich verführen will.“
„Oder einer vom Zirkus“, sagte ich.
Zirkus liebte ich. Oft schon hatte ich mir ausgemalt, wenn gerade ein Zirkus in der Stadt war, ich würde von zu Hause fortlaufen und mich beim Zirkus vorstellen. Erst würde ich für Putzarbeiten eingestellt, das Wischen von den Wohnwagen, dann zum Tiere füttern, erst nur die ungefährlichen …
„Träumst du?“, fragte mein Vater. „Hast du vergessen, was jetzt kommt? Du musst die Ärmel vom Schutzumschlag zurechtbiegen.“
Es war so langeilig, und ich hatte geträumt.
Um meinen Vater ein wenig zu fuxen, sagte ich: „Dann ist die Schokoglasur der Schutzumschlag für den Kuchen?“
„Gib her“, sagte mein Vater, und er vollbrachte den Schutzumschlag, und erinnerte sich mit kleiner Sehnsucht an die junge Frau, eine Bibliothekarin, die ihm vor ewigen Zeiten das Herstellen so eines Schutzumschlags beigebracht hatte.
Ich rannte aus der Küche und zu meinem Bruder, der ein Comic las. Solche Hefte brauchen keinen Schutzumschlag, sie waren nichts wert, fand unser Vater.
Ich sagte zu meinem Bruder: „Warum denkst du, kann unser Vater Comics nicht leiden?“
„Weil er denkt, das ist keine hohe Literatur.“
„Mein Deutschheft ist auch keine hohe Literatur.“
„Sei kein Kamel“, sagte mein Bruder und las weiter.

Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.