Monika Helfer

Kommentar

Monika Helfer

Kommentar: Verloren

Vorarlberg / 02.07.2025 • 07:15 Uhr

Zwei Frauen unterhalten sich auf der Straße. Ich sehe sie, als ich vom Bäcker komme. Sie reden eifrig und gestikulieren dabei. Eine schiebt nachlässig mit einem Fuß den Kinderwagen hin und her, hin und her. Ein kleines Mädchen hüpft ungeduldig. Auf ihr Quengeln hören die Frauen nicht, so sehr sind sie mit sich beschäftigt. Da läuft das Mädchen davon.

Eine Stunde später stehen die Frauen mit dem Kinderwagen immer noch auf der Straße.

Ein Polizeiauto fährt vorbei. Ein Polizist läutet an meiner Tür, fragt, ob ich ein kleines Mädchen gesehen habe. Ich erzähle, was ich beobachtet habe. Die Frauen haben die Polizei gerufen, weil das Mädchen verschwunden war. Der Polizist empört sich und schimpft mit den Frauen, die jetzt nervös auf und ablaufen und den Namen des Mädchens rufen. „Lilli, Lilli!“

Die eine Frau fährt mit dem Kinderwagen weg, die zweite steigt in das Polizeiauto, ich nehme an, das ist die Mutter von Lilli. Ich stelle mir vor, wie sie sich zu entschuldigen versucht, sie sei so im Gespräch vertieft gewesen, ihre Freundin habe Kummer, sie habe nur zugehört und Lilli aus dem Sinn gehabt. Aus den Augen verloren. Mit vier Jahren kann sie nicht so weit gelaufen sein. Alles wurde schon abgefragt. Niemand weiß etwas. In dieser Gegend wohnen nur brave Leute, wenige Autos sind unterwegs. Niemand hat Lilli gesehen.

Nein, das Mädchen war noch nie in dieser Gegend, kennt sich hier nicht aus. Hier gibt es Hunde und Katzen. Lilli liebt alle Tiere, sogar Würmer und Nacktschnecken. Wahrscheinlich ist sie einem Hund nachgelaufen. Sitzt in einer Wiese mit einer Katze auf ihrem Kleidchen. Nein, niemand hat sie gesehen. Ich nehme an, die Mutter wird gefragt, ob das ihr einziges Kind sei. Sie wird weinen, schluchzen. Einer der Polizisten wird Mitleid mit ihr haben und versuchen, sie zu beruhigen. Die Frau muss ihren Mann anrufen, muss ihm mitteilen, was passiert ist. Der wird durchdrehen, wenn er hört, dass sein Liebling verschwunden ist.

Man muss nicht immer gleich an ein Verbrechen denken, schließlich war das Kind nur eine knappe Stunde verloren, aber natürlich denkt man an ein Verbrechen, stellt sich das Schlimmste vor. Szenen aus einem Film fallen der Frau ein, ein totes Kind am Waldrand, ein überfahrenes Kind. Ich verspreche Ihnen, wird der mitleidige Polizist sagen, wir bringen ihnen das Kind wohlbehalten zurück.

Ich habe die Wäsche von der Leine geholt, und da sehe ich Lilli hinten an der Hauswand sitzen. Es streichelt meine Katze und summt dabei. Der mitleidige Polizist kommt mit der Mutter. Sie läuft auf Lilli zu, hebt sie hoch, Tränen laufen. Sie drückt das Kind an sich und dann schreit sie, weil das Kind ihr in den Arm gebissen hat.

Nein, danke, sie wollen kein Wasser, sie müssen nach Hause.

Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.