Reinhard Haller

Kommentar

Reinhard Haller

Kommentar: Whataboutism

Vorarlberg / 13.08.2025 • 10:27 Uhr

Manchmal kommt man trotz aller Warnungen vor der Entstellung unserer Sprache um die Verwendung von Anglizismen, also die Übernahme von englischen Wörtern ins Deutsche, nicht umhin. Dies aus dem einfachen Grund, weil es für manche Begriffe keinen geeigneten deutschen Ausdruck gibt, sondern allenfalls sperrige Umschreibungen. Einer davon betrifft eine Diskussionstaktik, die im privaten und beruflichen Streitgespräch, in politischen und medialen Auseinandersetzungen und auf Social Media ständig angewendet wird: der sogenannte Whataboutism. Man meint damit eine rhetorische Strategie, bei der auf Kritik gar nicht eingegangen, sondern ein Missstand ins Spiel gebracht wird, der mit dem angebrochenen Problem oft gar nichts zu tun hat. Ganz nach dem Muster: „Viel schlimmer aber ist…“. Ziel des Whataboutism ist es, das kritisierte Verhalten zu relativieren und vom eigentlichen Thema abzulenken.

“Problematisch ist Whataboutism, weil er sachliche Analysen untergräbt und Verantwortung verwässert.”

Die Geschichte des Whataboutism-Begriffs begann im Kalten Krieg. Wenn etwa der Westen damals die UdSSR wegen Verletzungen der Menschenrechte kritisierte, lautete die Antwort: „Und wie ist es mit dem Rassismus in den Vereinigten Staaten?“. Oder die Diskussion über die Gräuel der US-Army im Vietnamkrieg wurde auf den Einmarsch der Sowjets in der Tschechoslowakei verlagert. Solche Erwiderungen, mit denen man das eigene Fehlverhalten relativieren und stattdessen die Kritiker moralisch abkanzeln will, sind auch heute gang und gäbe. Sorgt man sich wegen des Antisemitismus, werden reflexartig die Verbrechen des Islamismus ins Spiel gebracht. Hinweise auf das unsägliche Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung tut man mit Verweis auf die furchtbaren Verbrechen der Hamsas ab. Als ob dadurch das Leid gemindert und die Thematisierung eines Problems ein anderes  beseitigen könnte.

Problematisch ist Whataboutism, weil er sachliche Analysen untergräbt und Verantwortung verwässert. Anstatt sich mit Kritik konstruktiv auseinanderzusetzen, wird durch Verweis auf andere Skandale eine Verteidigungsmauer aufgebaut. Diese Strategie kann gefährlich werden, wenn sie systematisch genutzt wird, um ehrliche Diskussionen zu verunmöglichen und moralische Standards zu untergraben. In einer Zeit, in der Debatten immer polarisierter geführt werden, ist es wichtig, rhetorische Ablenkungen wie Whataboutism zu erkennen und aufzuzeigen. Nur so sind konstruktive Lösungen im privaten und gesellschaftlichen Leben möglich, auch wenn man sich dabei zunächst mit einem Anglizismus auseinandersetzen muss.

Univ.-Prof. Prim. Dr. Reinhard Haller ist Psychiater, Psychotherapeut und früherer Chefarzt des Krankenhauses Maria Ebene.