Kolumne: Talent (9)
Linus stellte Luis im Rollstuhl vor die Eingangtstür zu Rebeccas Haus. Er klingelte kurz und übergab ihn Rebecca, und schon war er wieder weg. Um sechs würde er ihn abholen, rief er über seine Schultern, beim Wald mit den dreißig Bäumen.
Rebecca schob Luis. Irgendwohin. Seine Fingernägel waren bis aufs Fleisch abgekaut. Die Straße hinunter und unten zum Bach hinüber und dort am Weg entlang. Eine kleine Runde. Ein bisschen das Mathebuch schütteln. Nichts hatte einen Sinn. Das Buch am wenigsten.
„Was machst du den ganzen Tag?“, fragte sie.
„Filme schauen im Netz“, sagte er.
„Was für Filme?“
„Western und Pornofilme. Western lieber. Pornofilme auch, aber lieber Western. Alte Western auf YouTube. Nicht ganze Western. Nur Teile. Die spannendsten Teile. Wo einer erschossen wird oder zwei oder zehn.“
Luis ging es heute schlecht, das hatte Rebecca gleich gespürt. Er sah aus, als würde er gleich weinen. Worüber könnte er weinen, dachte sie. Über seinen Zustand? Der war gestern nicht anders. Und gestern sah er nicht so aus wie heute.
„Linus hat mir etwas mitgegeben“, sagte er. „Für uns beide. Auch für dich.“ Er zog zwei dicke Zigaretten aus seinem Ärmel. „Weißt du, was das ist? Linus hat mit mir gewettet, dass du es nicht weißt. Ich habe gesagt, sie weiß alles. Er hat gesagt, das nicht.“
„Das ist ein Joint“, sagte Rebecca.
Luis hielt ihr die beiden Zigaretten hin. „Anzünden!“, sagte er.
„Man muss daran ziehen, um sie anzuzünden“, sagte sie.
„Dann zieh daran!“, sagte er.
Sie zündete die Joint an, zog kräftig daran, sog den Rauch aber nicht in die Lungen und gab die Zigaretten an Luis weiter. Er hielt eine zwischen Zeigefinger und Mittelfinger, die andere zwischen Ringfinger und dem kleinen Finger. Der rechten Hand. Der gesunden.
Sie redeten nicht.
Rebecca saß am Boden. Luis rückte mit dem Rollstuhl nahe an sie heran. Sie lehnte ihren Kopf an seine Knie, er legte seine kranke Hand auf ihren Kopf. Zu welchem Ziel sollte Luis lernen? Aus ihm kann nichts werden. Nie mehr. Es kann sogar nur weniger aus ihm werden, als man am Anfang dachte. Seine Eltern hatten zu Linus gesagt, er sei von nun an der Hüter seines Bruders.
„Willst du nicht rauchen?“, fragte Luis.
Rebecca antwortete nicht. Sie antwortete fast nie auf Luis’ Fragen. Er vergaß ja ohnehin von einer Minute zur anderen, was er gefragt hatte. Sie stand auf, legte ihre Hand auf sein Haar, wie er die seine auf ihr Haar gelegt hatte, er zog an beiden Joints gleichzeitig, dann schob sie ihn zurück zu dem Nadelwald mit den dreißig Bäumen.
Als Linus an diesem Tag zu den beiden stieß, sahen sie aus wie eingeschlafen, ihre Augen geschlossen, Rebeccas Kopf auf Luis’ Schoß, ihr Kleid über die Knie gerutscht, das Mathebuch im Moos.
„Morgen“, sagte Luis, „bringe ich die Glock mit und zeige dir, wie gut ich schießen kann.“ Sie solle morgen wieder das rote Kleid anziehen.
Linus drehte hinter dem Rücken seines Bruders einen Vogel.
„Ich überleg es mir“, sagte Rebecca.
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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