Kolumne: Gerücht
Mancher Menschen Hobby ist das Gerücht, sei es in Ermangelung einer sinnvollen Tätigkeit oder aus Langeweile. Das Gerücht macht gesellig und den Verleumder interessant.
In einem Wohnhaus lebte eine Frau, die man vor Jahren noch am Tag gesehen hatte, später dann nur mehr im Dunkeln. Das Gerücht lautete: Sie hat etwas zu verbergen. Sie war, man wusste es nicht, nahm es nur an, konnte es nicht beweisen, ein Modell, das von Männern besucht und bezahlt wurde. Man sah den einen oder anderen Herrn bei ihr eintreten und lange nicht austreten, man sah diesen Herrn zum wiederholten Mal, auch andere, die es ihm scheinbar gleichtaten. Besonders die Frauen mokierten sich darüber, dass in ihrem Umfeld so Eine wohne. Die Scheinheiligkeit fand kein Ende.
Nun geschah es, dass einmal ein Krankenwagen vor dem Haus hielt, Sanitäter stiegen aus, ein Mann wurde aus dem Haus getragen und in den Wagen geschoben. Was war geschehen? Die Frauen trafen sich in der Waschküche und diskutierten. Sie waren sich einig, der abgeholte Herr hatte sich bei der Liebe verausgabt. Eine der Frauen glaubte, den Mann zu kennen, einen Beamten, einen an sich braven Mann, sicher war sie sich nicht. Man fand diesen Mann jedenfalls nicht in den Todesanzeigen.
Einmal sah eine der Frauen – sie war auf der Treppe gestanden und hatte freien Blick zum oberen Stockwerk – einen Blumenhändler, der läutete, dem aber die Tür nicht geöffnet wurde – so legte er den Rosenstrauß auf den Fußabstreifer. Die neugierige Frau wartete und bald öffnete sich die Tür, und der Strauß verschwand.
Von einer Zugehfrau wurde berichtet, die in diese Wohnung ging. Sie wurde an der Haustür von zwei Frauen abgepasst und ausgefragt. Sie erfuhren nichts, weil die Zugehfrau keine Fragen beantworten wollte. Eine der Frauen hatte die Idee, sie zu bestechen, also legten die Frauen zusammen und boten der Zugehfrau hundert Euro, sollte sie über den Zustand der geheimnisvollen Frau berichten. Was sie erfuhren, war nicht das, was sie hätten hören wollen. Die Zugehfrau berichtete von gepflegtem Mobiliar, guten Gerüchen und Großzügigkeit im Verdienst.
„Ja, wenn Sie so wollen“, sagte sie, „die Frau ist eine vornehme Prostituierte, sie verdient ihr Geld mit Zärtlichkeit, was gibt es dagegen einzuwenden.“
„Wir“, sagten die Frauen, „waren einfach nur besorgt, ist es denn nicht so, dass, wenn man lange von einer Person nichts sieht, annehmen könnte, sie sei tot, liege seit Tagen tot in ihrer Wohnung, das würde dann in der Zeitung stehen und man spräche von gewissenlosen Nachbarn.“
Gerücht und Moral gehören eben zusammen. Wie Butter und Kartoffel. Oder wie … wie was?
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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