Tote dienen Forschung

Wissen / 15.07.2016 • 09:15 Uhr
Weltbekannt sind die aus Körperspenden gefertigten Plastinate des Arztes, Anatomen und Wissenschafters Gunther von Hagens. Foto: AP
Weltbekannt sind die aus Körperspenden gefertigten Plastinate des Arztes, Anatomen und Wissenschafters Gunther von Hagens. Foto: AP

Für die anatomische Ausbildung von Medizinern sind Körperspenden unverzichtbar.

GREIFSWALD, SCHWARZACH. (VN-hrj, dpa) Was passiert mit dem Körper, wenn ein Mensch gestorben ist? Sargbegräbnis? Urnenbeisetzung? Erwin R. hat einen anderen Weg gewählt. Vor seinem Tod vermachte der Bregenzer seinen Körper der Wissenschaft. „Ich möchte nach meinem Tod von Nutzen sein“, begründete er seine Entscheidung. Im Alter von 62 Jahren ist er „nach langem Leiden, jedoch unerwartet, friedlich eingeschlafen“, stand in der VN-Todesanzeige. „Seinem Wunsch entsprechend wurde der Körper der Anatomie übergeben.“ Seine Ehefrau Eva war damit einverstanden.

Der Ingenieur Karl-Heinz K. aus Greifswald hatte 2011 beschlossen, seinen Leichnam nach dem Tod dem Anatomischen Institut der Universität Greifswald (Deutschland) zur Ausbildung und Forschung zu hinterlassen. Im Mai 2015 starb er 80-jährig an den Folgen einer Krebserkrankung. Seine Frau Gudrun vermisst ihren Mann unendlich. Doch zum toten Körper, der einmal ihr Karl-Heinz gewesen ist, hat sie ein nüchternes Verhältnis. „Ist es besser, wenn Mäuse an dem Leichnam nagen oder Flammen den Körper verbrennen?“, antwortet sie jenen, die eine Entscheidung, Körperspender zu sein, nicht verstehen können.

So lernen nun angehende Mediziner an Erwin R.s und Karl-Heinz K.s Körpern sowie an denen anderer Toter die Anatomie des Menschen kennen. Die Studenten öffnen den Brustkorb, verfolgen den Verlauf von Blutgefäßen und Nervensträngen, entnehmen und sezieren Organe.  

Ohne die praktische Ausbildung am menschlichen Körper ist die Medizinausbildung undenkbar. An nahezu allen Medizinischen Fakultäten in Österreich und Deutschland gehören Kurse im Präpariersaal zum Grundwerkzeug für angehende Ärzte. „Anatomie muss man begreifen“, sagt der Direktor des Instituts für Anatomie und Zellbiologie der Universität Heidelberg, Joachim Kirsch. „Das Studium an den Körpern ist Lernen mit allen Sinnen.“ Die Studierenden lernen durch Tasten, sie lernen durch Hineinfassen, durch Begreifen. Das kann keine virtuelle Anatomie leisten. Kirschs Greifswalder Amtskollege, Karlhans Endlich, sagt dazu: „Der Kurs ist mit Emotionen verbunden und alles was mit Emotionen verbunden ist, steigert den Lerneffekt.“

3D-Computeranimationen und Kunststoffmodelle können die Arbeit am Körper nicht ersetzen, sind Studierende und Professoren überzeugt. „Wollen Sie später von einem Arzt operiert werden, der den menschlichen Körper nur aus Büchern und von Modellen kennt?“, fragt Endlich. Dennoch hat in einigen Präpariersälen auch die virtuelle Anatomie Einzug gehalten. In Heidelberg wird beispielsweise von jedem Körperspender ein Ganzkörper-CT gemacht, welches im Präpariersaal hängt und an dem Studenten vergleichen können. So wird direkte Anschauung und Bildgebung miteinander gekoppelt.

Erstbegegnung mit dem Tod

Für die meisten Studierenden ist der Anatomiekurs die erste Begegnung mit dem Tod. Selten sterben die Menschen zu Hause – wie Erwin R. und Karl-Heinz K. Im nüchternen Neonlicht des Präparationstisches wird das Schicksal des Menschen ausgeblendet. Die Studierenden kennen weder den Namen des Toten noch dessen Alter. Die Leidensgeschichte des Menschen erfahren sie, wenn sie die Organe „lesen“.

Joachim Kirsch gibt seinen Studierenden, die im Vorklinikum im ersten und zweiten Semester noch sehr jung sind, etwas Wesentliches auf den Weg. „Der Körperspender, der vor euch auf dem Tisch liegt, ist euer erster Patient.“ An dem Umgang mit ihm präge sich das spätere Arzt-Patient-Verhältnis und das richtige Maß von Empathie und rationaler Professionalität.

Stichwort

Körperspende. Wer seinen Körper nach dem Tod der Wissenschaft zur Verfügung stellen will, muss zu Lebzeiten eine Vereinbarung mit einem entsprechenden Institut abschließen.

Der Sektion für Klinisch-Funktionelle Anatomie (ehemals Institut für Anatomie und Histologie) der Medizinischen Universität Innsbruck kann man mit einer Letztwilligen Verfügung seinen Körper vermachen. Eine derartige Letztwillige Verfügung kann allerdings jederzeit und ohne Angaben von Gründen widerrufen werden. Zurzeit nimmt die Medizinische Universität Innsbruck nur Verfügungen aus den Bundesländern Tirol und Vorarlberg an.